Fall 100
Aktenzeichen: 1 BvQ 2/20
Beck Online: NVwZ 2020 303.0
cid 100 BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvQ 2/20 - In dem Verfahren über den Antrag, im Wege der einstweiligen Anordnung die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 19. Dezember 2019 gegen den Auflagenbescheid der Freien und Hansestadt Hamburg vom 18. Dezember 2019 wiederherzustellen, hilfsweise: die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 19. Dezember 2019 gegen den Auflagenbescheid der Freien und Hansestadt Hamburg vom 18. Dezember 2019 mit der Maßgabe wiederherzustellen, dass dem Antragsteller ein alternativer Versammlungsstandort in Sichtweite der „Roten Flora“ zuzuweisen ist Antragsteller: P… e.V., vertreten durch den Vorsitzenden M…, - Bevollmächtigter: … - hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Harbarth, die Richterin Ott und den Richter Radtke gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 11. Januar 2020 einstimmig beschlossen: Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. G r ü n d e: I. 1 Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen die räumliche Verlegung einer Versammlung, die vom 11. Januar 2020, 15 Uhr, bis zum 12. Januar 2020, 7 Uhr, stattfinden soll. Das Motto der Versammlung lautet: „Rote Flora – ein Ort undemokratischer Denkweise und Verfassungsfeindlichkeit“. Der angemeldete Versammlungsort befindet sich in einer Entfernung von ca. 20 m von der „Roten Flora“, einem besetzten Gebäude im Hamburger Schanzenviertel, auf der gegenüberliegenden Straßenseite. 2 Der Antrag des Antragstellers auf verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz blieb im Ergebnis erfolgslos. 3 Wegen der besonderen Dringlichkeit hat die Kammer gemäß § 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG davon abgesehen, der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. II. 4 Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg. 5 1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. 6 Dabei haben die Gründe, welche der Antragsteller für die Verfassungs-widrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 7, 367 <371>; 134, 138 <140 Rn. 6>; stRspr). Erkennbare Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gegen eine verwaltungsgerichtliche Eilentscheidung sind zu berücksichtigen, wenn ein Abwarten den Grundrechtsschutz mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte (vgl. BVerfGE 111, 147 <153>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2018 - 1 BvQ 18/18 -, Rn. 5). Bei einem offenen Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfGE 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; stRspr). 7 2. Ausgehend davon kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht in Betracht. 8 a) Eine Verfassungsbeschwerde erscheint zum derzeitigen Zeitpunkt weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Insbesondere lässt sich im Rahmen des Eilrechtsschutzes nicht klären, ob die von der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens zum Vorliegen der Voraussetzungen eines polizeilichen Notstands angestellte Prognose, dass auch unabhängig von der Zahl der eingesetzten Polizeibeamten kein näher an der „Roten Flora“ im Schanzenviertel gelegener sicherer Alternativstandort zur Verfügung stehe, auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht. 9 b) Die danach gebotene Folgenabwägung geht zum Nachteil des Antragstellers aus. 10 Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, sich nach Durchführung eines Hauptsacheverfahrens jedoch herausstellte, dass die versammlungsbeschränkende Auflage mit der Verfassung nicht vereinbar ist, so wäre der Antragsteller in seinem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzt, das grundsätzlich auch die Bestimmung des Versammlungsorts umfasst. Der von dem Antragsteller ins Auge gefasste Versammlungsort in unmittelbarer Nähe der „Roten Flora“ ist für die geplante Versammlung und ihr gerade auf die „Rote Flora“ bezogenes kommunikatives Anliegen von erheblicher Bedeutung. Der Antragsteller hätte aber die Möglichkeit gehabt, die Versammlung – wenngleich an einem etwa einen Kilometer entfernten anderen Ort – unter dem vorgesehenen Motto und in der vorgesehenen Form überhaupt durchzuführen. 11 Erginge demgegenüber eine einstweilige Anordnung und würde sich später herausstellen, dass die Versammlung am ursprünglich vorgesehenen Ort – oder an vom Antragsteller hilfsweise ins Auge gefassten Alternativstandorten in Sichtweite der „Roten Flora“ – wegen der von der Versammlungsbehörde befürchteten, nicht anders abwendbaren gewalttätigen Ausschreitungen nach § 15 Abs. 1 VersG hätte untersagt werden dürfen, so wäre es zu einer Gefährdung und gegebenenfalls auch Schädigung auch höchstwertiger Rechtsgüter einer ganz erheblichen Zahl von Personen gekommen, obwohl der Auslöser hierfür – die Versammlung an dem ursprünglich vorgesehenen oder einem alternativ gewünschten Ort – wegen Vorliegens der Voraussetzungen eines polizeilichen Notstands rechtmäßigerweise hätte verhindert werden können. 12 Bei Gegenüberstellung dieser Folgen muss das Interesse des Antragstellers an einer uneingeschränkten Durchführung der Versammlung zurücktreten. Ihm entsteht kein so schwerer Nachteil, dass er den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht nach den dafür geltenden strengen Anforderungen rechtfertigen könnte. Sein Einwand, die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens trage aufgrund ihres Agierens in der Vergangenheit Mitverantwortung an der Sicherheitsproblematik rund um die „Rote Flora“, verfängt schon deshalb nicht, weil sich hierdurch die Schutzwürdigkeit der durch etwaige Gewalttätigkeiten aktuell bedrohten Rechtsgüter Dritter nicht minderte. 13 Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Harbarth Ott Radtke