Fall 6
Aktenzeichen: 1 BvR 287/93
Beck Online: NJW 1999 204.0

cid 6 
 Bundesverfassungsgericht 
- 1 BvR 287/93 -


 

 

 

Im Namen des Volkes 

 

In dem Verfahren 
      über 
      die Verfassungsbeschwerde 


   


des Herrn Sch... 

 


        - Bevollmächtigte:
       

        Rechtsanwälte Werner Dietrich und 
        Partnerin, Isabellastraße 11, München -
       

 

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des
      Bundesverfassungsgerichts durch den 
Vizepräsidenten Papier, 
      die Richter Grimm, 
      Hömig 


   


am 29. Juli 1998 einstimmig beschlossen: 


   


Das Urteil des Landgerichts München I vom 22.
      September 1992 - 18 Ns 115 Js 4426/91 und 18 Ns 111 Js
      4784/91 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht
      aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes, soweit der
      Beschwerdeführer wegen des Vergehens einer Verunglimpfung des
      Staates gemäß § 90 a Absatz 1 Nummer 1 des
      Strafgesetzbuchs verurteilt worden ist. Es wird insoweit
      aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung ist der Beschluß des
      Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 19. Januar 1993 - 4
      St RR 1/93 - gegenstandslos. Die Sache wird insoweit an das
      Landgericht München I zurückverwiesen. 
      Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur
      Entscheidung angenommen. 
      Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen
      Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten. 


   


Gründe: 


1  


Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine
      strafgerichtliche Verurteilung wegen Verunglimpfung des
      Staates (§ 90 a StGB) und wegen Durchführung einer nicht
      angemeldeten Versammlung (§ 26 Nr. 2 VersG). 

 

I. 


2  


1. Am 26. September 1991 veranstalteten
      mehrere Gruppierungen zum Gedenken an den am 26. September
      1980 erfolgten Sprengstoffanschlag auf dem Oktoberfest in
      München, bei dem 13 Menschen getötet und über 200 Personen
      zum Teil schwer verletzt worden waren, eine "Mahn- und
      Schutzwache" vor dem Haupteingang des Oktoberfestgeländes.
      Anläßlich dieser Veranstaltung wurde ein Flugblatt verteilt,
      für das unter anderen der Beschwerdeführer verantwortlich im
      Sinne des Pressegesetzes auftrat. 


3  


Das zweiseitige Flugblatt enthielt unter der
      Überschrift 


4  



26. September 1980 -
      faschistischer Anschlag auf das Oktoberfest 



5  



Vergessen? Niemals! 



6  


folgenden Text: 


7  


Am 26. September jährt sich zum elften Mal der
      Tag des neonazistischen Bombenanschlags auf das Oktoberfest.
      13 Menschen verloren dabei ihr Leben. Über 200 wurden zum
      Teil schwer verletzt, viele von ihnen fristen seither ihr
      Leben als Krüppel. 


8  


Die Hintergründe: Kurz vor der Bundestagswahl -
      mit dem Kanzlerkandidaten F.J. Strauß - sollte durch
      Verbreitung von Angst und Schrecken der starke Mann
      herbeigebombt werden, einer der Deutschland wieder zu dem
      machen sollte, was Hitler auf seine Fahnen geschrieben hatte:
      "Ruhe und Ordnung" nach innen, Großdeutschland nach
      außen. 


9  


Die Blutspuren waren von den Wasserwerfern noch
      nicht weggespült, da gab Franz Josef Strauß die Parole aus,
      bei den Tätern handle es sich um Linke aus der DDR. Eine
      "Panne", die Strauß nicht ins Konzept paßte: Der
      blutdurchtränkte Ausweis Gundolf Köhlers, eines Mitglieds der
      neonazistischen Wehrsportgruppe Hoffmann wurde gefunden. Was
      tut die bayerische Staatsregierung, was tut das
      Bundeskriminalamt? Man setzt eine Einzeltätertheorie in die
      Welt: Gundolf Köhler war ein Verrückter, er hat die Bombe
      allein fabriziert und geworfen. Politischer Hintergrund:
      Keiner... 


10  


Die Untersuchungen werden abgebrochen, 


11  


- obwohl eine Fülle von Zeugenaussagen gegen
      die Einzeltäterschaft Köhlers sprechen, 


12  


- obwohl die Selbstbezichtigung eines Mitglieds
      der Wehrsportgruppe Hoffmann vorlag. 


13  


Die Täter wurden nie gefaßt. Sie laufen noch
      heute frei herum, weil Bundesanwaltschaft und -kriminalamt
      unter eifriger Hilfestellung von Strauß und seiner CSU die
      Ermittlungen bereits nach zwei Jahren endgültig
      einstellten. 


14  


Heute, ein Jahr nach der sogenannten
      "Wiedervereinigung", sprich Einverleibung der DDR, ist
      Großdeutschland durch die offizielle Regierungspolitik
      bereits Realität. Die Liste mörderischer Anschläge unter dem
      Zeichen deutschen Großmachtgebärdens wird täglich länger. 


15  


- Da ermorden rechtsradikale Skins den
      Mosambikaner Jorge Gomondai. Dazu erklärt der Sprecher der
      sächsischen Landesregierung Dr. Michael Kinze (CDU):
      "Die Regierung des Freistaates wird sich
      bemühen, gesunde, attraktive Alternativen für die
      Freizeitgestaltung zu finden" . 


16  


- Wo Großdeutschland seine Soldaten in der
      ganzen Welt für "Ruhe und Ordnung" schießen lassen will, da
      ist es nichts besonderes mehr, wenn ein Bundeswehrsoldat hier
      in München zwei wehrlose türkische Jugendliche von hinten
      niederschießt. 


17  


- Wo ganze Länder zur Bereicherung einer
      Minderheit ausgeblutet und ihres Selbstbestimmungsrechtes
      beraubt werden, da ist der Knüppel auf den Flüchtling nur die
      letzte Station: Keine Woche vergeht ohne Überfall auf ein
      Asylbewerberheim. 


18  


Die Staatsorgane betrachten das Schlagen und
      Morden mit verschränkten Armen. Polizisten erklären offen
      "die Skins machen für uns Arbeit, wenn sie am
      Bahnhof die Roma abräumen"  (SZ 16.5.91). Und wenn sie
      sich prügeln (wie z.B. am 9.9.91 bei dem Überfall auf eine
      Polizeiwache zur Befreiung eines Neonazis), trägt dies Züge
      von rivalisierenden Banden. Politiker gießen tagtäglich Öl
      ins Feuer, einzig und allein, um die Mordstimmung weiter
      anzuheizen - wie zuletzt mit dem Vorschlag, Asylbewerber in
      die Wiesn-Zelte zu stecken. 


19  



Den Mordanschlag der Faschisten
      vergessen? 



20  


In einem Land, das keinen einzigen Nazirichter
      für seine Bluturteile zur Rechenschaft zog, dessen Gerichte
      die übergroße Mehrzahl der Schreibtischmörder und KZ-Schergen
      bis auf den heutigen Tag unbehelligt ließ, das Kasernen nach
      Nazigenerälen benannte? 


21  


In einem Land, in dem inzwischen z.B. der
      SS-Arzt Harrer die DDR von Nazigegnern säubert? 


22  


In einem Land, in dem die schlimmsten
      Verbrecher der Menschheit, die deutschen Kriegsverbrecher,
      ihren in der DDR enteigneten Fabrikbesitz wieder in Beschlag
      nehmen und damit geradezu belohnt werden? 


23  


In einem Land, dessen Staatsorgane die
      Vertuschung des faschistischen Anschlags auf das Oktoberfest
      betrieben, dessen Staatsorgane Faschisten an "Führers
      Geburtstag" demonstrieren und vor Gegendemonstrationen
      schützen läßt, sie so zu weiteren Bluttaten ermutigt? 


24  


Wie können wir in einem solchen Land vergessen,
      in einer Zeit, in der die Regierung selbst auf ihre Fahnen
      geschrieben und durchgesetzt hat, wofür der
      Wehrsportgruppenchef Karl Heinz Hoffmann seine Leute
      trainierte: ein aggressives Großdeutschland im Herzen
      Europas. Vergessen? Niemals! 


25  


Es folgt ein Aufruf zur Beteiligung an der
      "Mahn- und Schutzwache". 


26  


2. Der Beschwerdeführer wurde daraufhin vom
      Amtsgericht wegen Verunglimpfung des Staates zu einer
      Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 20 DM verurteilt. Mit
      weiterem Urteil des Amtsgerichts wurde gegen ihn wegen
      Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz eine Geldstrafe von 80
      Tagessätzen zu je 20 DM festgesetzt. Nach Verbindung der
      beiden Strafverfahren im Berufungsrechtszug änderte das
      Landgericht auf die Berufung der Staatsanwaltschaft die
      Urteile des Amtsgerichts im Strafausspruch und erkannte auf
      eine Gesamtgeldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 20 DM. Die
      Berufungen des Beschwerdeführers gegen die Urteile des
      Amtsgerichts verwarf es als unbegründet. 


27  


Zur Begründung der Verurteilung nach § 90
      a StGB führte das Landgericht aus: Die im Flugblatt
      aufgestellten Behauptungen seien Beschimpfungen im Sinne von
      § 90 a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Der Inhalt des Flugblatts sei
      nicht durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt. Nach
      dem maßgeblichen objektiven Inhalt werde die Bundesrepublik
      Deutschland mit einem faschistischen Staat gleichgesetzt,
      dessen Regierung "ein aggressives Großdeutschland im Herzen
      Europas" auf ihre Fahnen geschrieben habe. Es werde die
      Behauptung aufgestellt, die Staatsorgane der Bundesrepublik
      Deutschland bedienten sich neonazistischer Anschläge für ihre
      Ziele. Dies ergebe sich eindeutig aus dem Text des
      Flugblattes, in dem behauptet werde, "die Staatsorgane
      betrachten das Schlagen und Morden mit verschränkten Armen...
      Politiker gießen täglich Öl ins Feuer, einzig und allein, um
      die Mordstimmung weiter einzuheizen". Die Behauptung, "die
      Staatsorgane hätten die Aufklärung der Hintergründe und Täter
      des Bombenanschlages auf das Oktoberfest verhindert",
      beinhalte die Behauptung, daß das furchtbare Ergebnis des
      Bombenanschlages eigentlich genehm gekommen sei, damit
      endlich wieder politische Ziele verfolgt werden könnten, die
      bereits Hitler verfolgt habe. Verstärkt werde diese
      Behauptung durch folgende weitere Textpassage: "Die
      Hintergründe: Kurz vor der Bundestagswahl sollte durch
      Verbreitung von Angst und Schrecken der starke Mann
      herbeigebombt werden, einer, der Deutschland wieder zu dem
      machen sollte, was Hitler auf seine Fahnen geschrieben hatte:
      'Ruhe und Ordnung' nach innen, Großdeutschland nach außen."
      Darüber hinaus würden die Bundesrepublik Deutschland und der
      Freistaat Bayern weiterhin mit einem faschistischen Staat
      gleichgesetzt, wenn in dem Flugblatt die Behauptung
      aufgestellt werde, "in einem Land, in dem die schlimmsten
      Verbrecher der Menschheit, die deutschen Kriegsverbrecher,
      ihren in der DDR enteigneten Fabrikbesitz wieder in Beschlag
      nehmen und damit geradezu belohnt werden." In dem Flugblatt
      würden mit den Begriffen "Großdeutschland" ohne weitere
      Differenzierung sowohl die außenpolitischen Zielsetzungen
      Adolf Hitlers und der neonazistischen "Wehrsportgruppe
      Hoffmann" als auch die Bundesrepublik Deutschland in ihrer
      derzeitigen Gestalt als Resultat der Politik der derzeitigen
      Bundesregierung verwendet. Nach den im Flugblatt genannten
      Kriterien sei die Verwendung gleichlautender Oberbegriffe so
      zu verstehen, daß behauptet werde, die Bundesrepublik
      Deutschland sei in ihrem derzeitigen Erscheinungsbild
      faktisch nur eine Fortführung des Dritten Reiches, zwar unter
      einer neuen politischen Führung, jedoch unter Beibehaltung
      der alten geistig-ideologischen Prinzipien. Eine derartige
      Gleichstellung der Bundesrepublik Deutschland und des
      Freistaats Bayern als Träger der hinsichtlich des Attentats
      vom 26. September 1980 durchgeführten
      Strafverfolgungsmaßnahmen mit einem faschistischen
      Unrechtsstaat bedeute eine Herabwürdigung der Eigenschaften
      beider Staaten als freiheitlich-repräsentative Demokratien
      und überschreite damit die Grenzen harter politischer Kritik.
      Es handele sich nicht lediglich um taktlose oder zynische
      Entgleisungen. 


28  


Die vom Beschwerdeführer gegen dieses Urteil
      eingelegte Revision wurde mit Beschluß des Bayerischen
      Obersten Landesgerichts als unbegründet verworfen. 


29  


3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der
      Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 5 und 8 GG. Zur
      Begründung trägt er im wesentlichen vor: 


30  


Das Landgericht habe gegen Art. 5 Abs. 1 Satz
      1 GG verstoßen, weil es der Verurteilung ein Verständnis des
      Flugblattes zugrunde gelegt habe, das nicht zutreffend sei.
      Amtsgericht und Landgericht hätten eine eigene verschärfte
      Auslegung hinsichtlich einzelner Formulierungen gewählt und
      dem Flugblatt durch einseitige Interpretation einen völlig
      überzogenen Inhalt untergeschoben. Das Flugblatt enthalte
      mehrere pointiert und scharf formulierte wertende
      Einschätzungen, die das Landgericht zu Unrecht als
      Tatsachenbehauptung und Verstoß gegen § 90 a StGB
      gewertet habe. Die Annahme, die Bundesrepublik Deutschland
      und der Freistaat Bayern würden mit einem Unrechtssystem wie
      dem NS-Staat gleichgesetzt, finde in dem Flugblatt keine
      Stütze. Im Flugblatt seien lediglich die Handhabung der
      Ermittlungen im Rahmen des Attentats im Jahre 1980 sowie die
      Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1992,
      insbesondere im Hinblick auf den Krieg auf dem Balkan,
      angegriffen und kritisiert worden. Der Begriff des
      Beschimpfens umfasse nicht jede herabsetzende Äußerung,
      sondern nur durch Form oder Inhalt besonders verletzende
      Äußerungen der Mißachtung. Bei der erforderlichen - vom
      Landgericht unterlassenen - Abwägung sei zu berücksichtigen,
      daß das Flugblatt einen Beitrag zu mehreren die
      Öffentlichkeit seit Jahren stark berührenden Themen, nämlich
      die kontrovers geführte öffentliche Auseinandersetzung über
      Fragen der Ermittlungen im Hinblick auf das
      Oktoberfest-Attentat und über die Frage der Intervention oder
      Mitschuld der Außenpolitik an den Verhältnissen im ehemaligen
      Jugoslawien, geleistet habe. Bei solchen Fragen sei auch
      Kritik in überspitzter und polemischer Form hinzunehmen.
      Insoweit gelte die Vermutung für die Zulässigkeit der freien
      Rede. 


31  


Hinsichtlich der Verurteilung wegen Verstoßes
      gegen das Versammlungsgesetz habe das Landgericht den
      Unterschied zwischen einer nicht anmeldepflichtigen
      Spontanversammlung und einer Eilversammlung verkannt. 


32  


4. Das Bayerische Staatsministerium der
      Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Das
      Landgericht habe die Aussagen des Flugblatts korrekt
      interpretiert. Es sei zwar zu berücksichtigen, daß die
      Äußerungen Fragen betroffen hätten, die die Öffentlichkeit
      wesentlich berührten und damit die Vermutung der freien Rede
      genössen. Es liege jedoch eine nicht zulässige Schmähung des
      Staates und seiner Organe vor. 

 

II. 


33  


Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Jedoch
      kann das Bundesverfassungsgericht den Rügen des
      Beschwerdeführers nicht in vollem Umfang nachgehen. 


34  


Soweit der Beschwerdeführer einen Verstoß
      gegen Art. 8 GG rügt, erfüllt die Verfassungsbeschwerde nicht
      die Begründungsanforderungen, die sich aus § 92 BVerfGG
      ergeben. Er hat die angegriffenen Entscheidungen nicht
      fristgerecht vorgelegt und auch die Begründungen, die die
      Verurteilung nach § 26 Nr. 2 VersG tragen, nicht so
      wiedergegeben, daß die Möglichkeit einer
      Grundrechtsverletzung geprüft werden könnte. Dasselbe gilt
      für die Rüge, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG sei verletzt, soweit
      sie sich auf die Entscheidungen des Amtsgerichts und des
      Bayerischen Obersten Landesgerichts bezieht. Der
      Beschwerdeführer hat auch insoweit weder die Entscheidungen
      fristgerecht vorgelegt noch ihren Inhalt dargestellt. 


35  


Die Rüge, das Urteil des Landgerichts verstoße
      gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ist dagegen zulässigerweise
      erhoben worden. Die Urteilsgründe, die die Verurteilung nach
      § 90 a Abs. 1 Nr. 1 StGB tragen, sind in der
      Verfassungsbeschwerde wörtlich wiedergegeben worden und
      lassen einen Verstoß gegen das Grundrecht der
      Meinungsfreiheit als möglich erscheinen. 

 

III. 


36  


1. Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig
      ist, nimmt die Kammer sie zur Entscheidung an, weil dies zur
      Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 5
      Abs. 1 Satz 1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe
      b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende
      Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c BVerfGG). Die für
      die Entscheidung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen
      der Reichweite von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bei der
      strafrechtlichen Beurteilung von Meinungsäußerungen im
      allgemeinen sowie im Bereich von § 90 a StGB im
      besonderen hat das Bundesverfassungsgericht bereits
      entschieden (vgl. allgemein zuletzt BVerfGE 93, 266
      <292 ff.>; zu § 90 a StGB BVerfGE 47, 198
      <232 f.>). 


37  


2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.
      Die Entscheidung des Landgerichts verstößt gegen Art. 5 Abs.
      1 Satz 1 GG. 


38  


a) Die Äußerungen in dem Flugblatt,
      derentwegen der Beschwerdeführer verurteilt worden ist,
      nehmen am Schutz der Meinungsfreiheit teil. Das Flugblatt
      enthält überwiegend Meinungen zum Vorgehen des Staates gegen
      Neonazis und zu den Zielen der deutschen Politik nach der
      Wiedervereinigung. Meinungen fallen stets in den
      Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ohne daß es dabei
      auf Begründetheit oder Richtigkeit ankäme. Sie verlieren
      diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen
      geäußert werden (vgl. BVerfGE 61, 1 <7>;  85, 1
      <14 f.>;  90, 241 <247>). Soweit in dem
      Flugblatt Tatsachenbehauptungen enthalten sind, dienen sie
      ersichtlich zur Stützung der Werturteile und stehen wegen
      dieses Zusammenhangs ebenfalls unter dem Schutz der
      Meinungsfreiheit (vgl. BVerfGE 61, 1 <8>; 90, 241
      <247>). 


39  


b) Das Landgericht hat die Anforderungen, die
      das Grundgesetz an Eingriffe in die Meinungsfreiheit richtet,
      nicht hinreichend beachtet. Zwar bestehen gegen die
      Vorschrift des § 90 a Abs. 1 Nr. 1 StGB, auf die das
      Landgericht die Verurteilung des Beschwerdeführers gestützt
      hat, keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken
      (vgl. BVerfGE 47, 198 <232 f.>; 75, 329
      <341>; 92, 1 <12>). Doch hat das Landgericht bei
      Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift das Grundrecht der
      Meinungsfreiheit nicht ausreichend berücksichtigt. 


40  


aa) Auslegung und Anwendung strafrechtlicher
      Vorschriften sind Sache der Strafgerichte. Geht es um
      Äußerungen, die vom Schutz der Meinungsfreiheit umfaßt
      werden, haben sie dabei aber dem eingeschränkten Grundrecht
      Rechnung zu tragen, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch
      auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7,
      198 <208 f.>; stRspr). Dazu gehört zum einen eine
      zutreffende Erfassung des Sinns der umstrittenen Äußerung.
      Insbesondere dürfen die Gerichte ihr keine Bedeutung
      beilegen, die sie objektiv nicht hat, und im Fall der
      Mehrdeutigkeit nicht von der zur Verurteilung führenden
      Deutung ausgehen, ehe sie andere Deutungsmöglichkeiten mit
      tragfähigen Gründen ausgeschlossen haben (vgl. zuletzt
      zusammenfassend BVerfGE 93, 266 <295 ff.>). Zum
      anderen gehört dazu eine im Rahmen der Tatbestandsmerkmale
      der Strafvorschrift vorzunehmende fallbezogene Abwägung
      zwischen der Meinungsfreiheit auf der einen und dem
      Rechtsgut, in dessen Interesse sie eingeschränkt ist, auf der
      anderen Seite (vgl. zuletzt zusammenfassend BVerfGE 93, 266
      <293 ff.>). Handelt es sich bei der gesetzlichen
      Beschränkung der Meinungsfreiheit um eine Staatsschutznorm,
      ist besonders sorgfältig zwischen einer - wie verfehlt auch
      immer erscheinenden - Polemik und einer Beschimpfung oder
      böswilligen Verächtlichmachung zu unterscheiden, weil Art. 5
      Abs. 1 GG gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der
      Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine
      Bedeutung findet (vgl. BVerfGE 93, 266 <293>). 


41  


bb) In beiden Hinsichten begegnet die
      angegriffene Entscheidung verfassungsrechtlichen
      Bedenken. 


42  


(1) Das Landgericht sieht die Verunglimpfung
      des Staates im Sinn von § 90 a Abs. 1 Nr. 1 StGB darin,
      daß in dem Flugblatt die Bundesrepublik Deutschland und der
      Freistaat Bayern als Träger der Strafverfolgungsmaßnahmen aus
      Anlaß des Oktoberfest-Anschlags mit einem faschistischen
      Staat gleichgesetzt würden. Eine derartige Gleichsetzung
      bedeute eine Herabwürdigung der Eigenschaften beider Staaten
      als freiheitlich-repräsentativer Demokratien. Dieses
      Verständnis des Flugblatts wird den Anforderungen, die Art. 5
      Abs. 1 Satz 1 GG nach der ständigen Rechtsprechung des
      Bundesverfassungsgerichts an die Deutung von Äußerungen
      stellt, nicht gerecht. 


43  


Zwar läßt es sich von Verfassungs wegen nicht
      beanstanden, daß in der Gleichsetzung der Bundesrepublik
      Deutschland oder eines ihr angehörenden Landes mit einem
      faschistischen Staat eine Beschimpfung im Sinn von § 90
      a Abs. 1 Nr. 1 StGB gesehen wird. Das Landgericht hat aber
      nicht ausreichend dargelegt, daß das Flugblatt diesen Sinn
      tatsächlich hat. Eine ausdrückliche Gleichsetzung enthält der
      Text des Flugblatts nicht. Sie ist vielmehr das Ergebnis der
      Textinterpretation durch das Landgericht. Ob der Text auch
      andere, nicht die Tatbestandsmerkmale von § 90 a Abs. 1
      Nr. 1 StGB erfüllende Deutungen zuließe, hat es nicht
      erwogen. Dazu hätte aber Anlaß bestanden, weil sich seine
      Deutung nicht zwingend und alternativlos aus dem Text des
      Flugblatts ergibt. 


44  


Das Flugblatt zerfällt erkennbar in drei
      thematisch verschiedene Teile. Unter der für seine
      Zielrichtung maßgeblichen Überschrift "Vergessen? Niemals!"
      geißelt es zunächst die nach Auffassung der Verantwortlichen
      ungenügende Aufklärung des Oktoberfest-Anschlags von 1980,
      hinter dem die schon von Hitler angestrebten Ziele von Ruhe
      und Ordnung im Inneren und Großdeutschland nach außen
      gestanden hätten. Dabei ist bezüglich der Einstellung der
      Ermittlungen nach zwei Jahren von einer nicht näher
      beschriebenen "Hilfestellung von Strauß und seiner CSU" die
      Rede. Sodann wendet sich das Flugblatt der politischen Lage
      nach der Wiedervereinigung zu, in deren Folge
      "Großdeutschland" durch die Regierungspolitik zur Realität
      geworden sei. Es folgt die Aussage, daß im Zuge dieser
      Entwicklung die "Liste mörderischer Anschläge" länger werde.
      Die Staatsorgane betrachteten dies "mit verschränkten Armen".
      Politiker gössen Öl ins Feuer um die "Mordstimmung"
      anzuheizen. Im letzten Teil wird ausgeführt, daß in der
      Bundesrepublik nicht entschieden gegen ehemalige
      Nationalsozialisten vorgegangen worden sei und nach der
      Wiedervereinigung Kriegsverbrecher ihren in der Deutschen
      Demokratischen Republik enteigneten Besitz wiedererlangten.
      Der Text kehrt dann zum Oktoberfest-Anschlag zurück, der von
      den deutschen Staatsorganen vertuscht werde, während
      Demonstrationen von Faschisten erlaubt und vor
      Gegendemonstrationen geschützt würden. Daraus wird im letzten
      Satz das Fazit gezogen, daß in einem solchen Land, in dem die
      Regierung "ein aggressives Großdeutschland im Herzen Europas"
      auf ihre Fahnen geschrieben habe, der Anschlag nicht
      vergessen werden dürfe. 


45  


Angesichts dieser Textgestaltung kann dem
      Flugblatt auch der Vorwurf einer Blindheit oder
      Nachsichtigkeit der deutschen Staatsorgane gegenüber
      neonazistischen Bestrebungen, ja, möglicherweise sogar - wie
      das Landgericht annimmt - einer Ausnutzung neonazistischer
      Gewalttaten für politische Zwecke gesehen werden, ohne daß
      darin zugleich die Behauptung einer Billigung solcher Taten
      und Bestrebungen oder gar eine Gleichsetzung der
      Bundesrepublik Deutschland oder des Freistaats Bayern mit
      faschistischen Staaten liegen müßte. Dasselbe gilt für die
      Charakterisierung der deutschen Politik im Gefolge der
      Wiedervereinigung als aggressiver Großmachtpolitik. Auch
      diese Äußerung läßt sich als kritische Bewertung deutscher
      Politikziele verstehen, die gerade wegen ihrer im Flugblatt
      ausdrücklich behaupteten Gleichgerichtetheit mit den Zielen
      der als "neonazistisch" bezeichneten Wehrsportgruppe Hoffmann
      Kritik verdienten, ohne daß damit die Bundesrepublik
      insgesamt einem faschistischen Staat gleichgestellt würde.
      Dabei kommt es für die Deutung der Äußerung nicht darauf an,
      ob derartige Vorwürfe berechtigt wären oder nicht.
      Ausschlaggebend ist vielmehr nur, ob auch dann, wenn dieser
      Auslegung der Vorzug gebührte, der Tatbestand von § 90 a
      Abs. 1 Nr. 1 StGB als erfüllt gelten könnte. 


46  


Die Notwendigkeit, eine derartige
      Deutungsalternative in Erwägung zu ziehen, besteht um so
      mehr, als die Gründe, die das Landgericht für seine Deutung
      anführt, einer Nachprüfung nicht durchweg standhalten. In der
      vom Landgericht in Anführungszeichen gesetzten, in der
      zitierten Form im Flugblatt aber nicht vorhandenen Aussage,
      "Die Staatsorgane hätten die Aufklärung der Hintergründe und
      Täter des Bombenanschlages auf das Oktoberfest behindert",
      liegt nicht zwingend, wie das Landgericht meint, die
      Behauptung, das Attentat sei den Staatsorganen deswegen
      genehm gekommen, damit sie wieder politische Ziele verfolgen
      konnten, die bereits Hitler verfolgt habe. Die zur Stützung
      dieser Annahme herangezogene Passage über "Die Hintergründe"
      im ersten Teil des Flugblatts läßt sich dafür nicht
      verwerten, weil sie sich nicht auf die Staatsorgane oder
      Politiker der Bundesrepublik, sondern auf die "Bombenleger"
      bezieht. Ebensowenig ergibt sich aus der in dem Flugblatt
      enthaltenen Aussage, Kriegsverbrecher würden durch Rückgabe
      ihres in der Deutschen Demokratischen Republik enteigneten
      Besitzes belohnt, etwas für die Gleichsetzung der
      Bundesrepublik oder Bayerns mit einem faschistischen Staat.
      Schließlich folgt auch aus dem Umstand, daß der Begriff
      "Großdeutschland" in dem Flugblatt sowohl für die Ziele
      Hitlers und der Wehrsportgruppe Hoffmann als auch der
      Bundesregierung verwendet wird, nicht notwendig, daß die
      Bundesrepublik in ihrem derzeitigen Erscheinungsbild nur als
      "Fortführung des Dritten Reiches" gesehen werde, wie das
      Landgericht annimmt. 


47  


(2) Die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung
      zwischen der Schwere der Beeinträchtigung der
      Meinungsfreiheit durch die Verurteilung einerseits und dem
      Grad der Beeinträchtigung des von § 90 a StGB
      geschützten Rechtsguts durch die Äußerung andererseits, die
      das Landgericht im Rahmen der Auslegung und Anwendung der
      Tatbestandsmerkmale von § 90 a Abs. 1 Nr. 1 StGB auch
      dann hätte vornehmen müssen, wenn seine Deutung der Äußerung
      und ihre Subsumtion unter diese Vorschrift zutreffend wären,
      ist gänzlich unterblieben. 


48  


Eine derartige Abwägung war - entgegen der
      Auffassung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz -
      auch nicht etwa unter dem Gesichtspunkt der Schmähkritik
      entbehrlich. Hierbei bedarf es keiner Entscheidung, ob die
      vom Bundesverfassungsgericht für die Annahme der Schmähung
      einer Person entwickelten Grundsätze auf den Bereich des
      durch § 90 a Abs. 1 Nr. 1 StGB geschützten Rechtsguts
      übertragbar sind. Denn eine Schmähung, die regelmäßig im
      Rahmen der Güterabwägung zu einem Zurücktreten des Rechts auf
      Meinungsfreiheit führt, ist weder vom Landgericht hinreichend
      begründet worden noch sind die Voraussetzungen, unter denen
      nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
      eine Meinungsäußerung als Schmähkritik anzusehen ist (vgl.
      zuletzt BVerfGE 93, 266 <294>), ersichtlich. Hiernach
      darf im Interesse der Meinungsfreiheit der Begriff der
      Schmähkritik nicht weit ausgelegt werden (vgl. BVerfGE 82,
      272 <284>; 93, 266 <294>). Demgemäß macht auch
      eine überzogene oder gar ausfällige Kritik eine Äußerung für
      sich genommen noch nicht zur Schmähung. Hinzutreten muß
      vielmehr, daß bei der Äußerung nicht mehr die
      Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der
      Person im Vordergrund steht. Sie muß jenseits auch
      polemischer und überspitzter Kritik in der persönlichen
      Herabsetzung bestehen, so daß Schmähkritik bei Äußerungen in
      einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage nur
      ausnahmsweise vorliegen und im übrigen eher auf die
      sogenannte Privatfehde beschränkt bleiben wird (vgl. BVerfGE
      93, 266 <294>). 


49  


Diese Voraussetzungen liegen nach den
      Feststellungen des Landgerichts nicht vor. Dem
      Beschwerdeführer ging es - wie auch das Staatsministerium
      einräumt - um eine politische Auseinandersetzung in die
      Öffentlichkeit wesentlich berührenden Fragen, nämlich die
      Ermittlungstätigkeit nach dem Bombenanschlag von 1980, die
      Einstellung der Polizei und der Politiker gegenüber
      ausländerfeindlichen Gewalttaten, die Rückgabe von
      enteignetem Fabrikbesitz sowie die außenpolitische
      Einstellung und das Auftreten der Bundesrepublik Deutschland
      nach der Wiedervereinigung. Angesichts dessen könnte von
      einer Schmähkritik nur dann gesprochen werden, wenn in den
      der strafrechtlichen Verurteilung zugrunde gelegten
      Äußerungen auch unter Berücksichtigung ihres Kontextes die
      Sachauseinandersetzung von der Diffamierung des Staates
      völlig in den Hintergrund gedrängt worden wäre. Daran
      bestehen aber gerade deswegen Zweifel, weil die teilweise
      scharf und überspitzt formulierten Äußerungen zu diesen
      Themen ersichtlich dazu dienten, die Schlußfolgerung aus der
      kritisierten politischen Situation zu belegen. 


50  


3. Das Urteil beruht auf der Verkennung der
      Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Meinungsfreiheit
      aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Es ist nicht auszuschließen, daß
      das Landgericht bei Berücksichtigung der grundrechtlichen
      Anforderungen zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. 


51  


4. Die Entscheidung über die Erstattung der
      notwendigen Auslagen folgt aus § 34 a Abs. 2
      BVerfGG. 


52  


Diese Entscheidung ist unanfechtbar. 


   




Papier 
Grimm 
Hömig