Fall 66
Aktenzeichen: 1 BvR 2298/10
Beck Online: BeckRS 2010 54613.0

cid 66 
 BUNDESVERFASSUNGSGERICHT 
- 1 BvR 2298/10 - 

 

 

 

Im Namen des Volkes 

 

In dem Verfahren 
      über 
      die Verfassungsbeschwerde 


   


des Herr G…, 


   





gegen
          a) 

den Beschluss des
          Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 3. September 2010 -
          14 L 970/10 -, 



b) 

die Verbotsverfügung des
          Polizeipräsidiums Dortmund vom 2. September 2010
          - Dez. 12-60, 13.04-169/08 - 




   




h i e r : 
Antrag auf Erlass einer einstweiligen
          Anordnung 




   


hat die 1. Kammer des Ersten Senats des
      Bundesverfassungsgerichts durch 
den Vizepräsidenten Kirchhof 
      und die Richter Schluckebier, 
      Masing 


   


gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit
      § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der
      Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 4.
      September 2010 einstimmig beschlossen: 


   



Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen
        die Verbotsverfügung des Polizeipräsidiums Dortmund vom 2.
        September 2010 wird mit der Maßgabe wiederhergestellt, dass
        von der Versammlungsbehörde für erforderlich gehaltenen
        Auflagen Folge zu leisten ist.
                             Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem
        Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu
        erstatten.
                          


   


Gründe: 


1  


Der mit der Verfassungsbeschwerde verbundene
      Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, der ein für
      sofort vollziehbar erklärtes Versammlungsverbot betrifft, hat
      Erfolg. 


2  


Er ist zulässig. Insbesondere genügt er dem
      Grundsatz der Subsidiarität. Der Beschwerdeführer hat mit der
      Ankündigung einer Beschwerde gegen eine ablehnende
      Entscheidung des Verwaltungsgerichts und der Erhebung dieser
      Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht das ihm Zumutbare
      getan, fachgerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen, auch wenn
      dieses abgelehnt hat, hierüber noch zeitgerecht zu
      entscheiden. 


3  


Der Antrag ist auch begründet. Nach § 32
      Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im
      Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung
      vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile,
      zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen
      wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. 


4  


Im Eilrechtsschutzverfahren sind die
      erkennbaren Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde zu
      berücksichtigen, wenn - wie hier - aus Anlass eines
      Versammlungsverbots über einen Antrag auf einstweiligen
      Rechtsschutz zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung
      eines Rechtsbehelfs zu entscheiden ist und ein Abwarten bis
      zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens oder des
      Hauptsacheverfahrens den Versammlungszweck mit hoher
      Wahrscheinlichkeit vereitelte. Ergibt die Prüfung im
      Eilrechtsschutzverfahren, dass eine Verfassungsbeschwerde
      offensichtlich begründet wäre, läge in der Nichtgewährung von
      Rechtsschutz der schwere Nachteil für das gemeine Wohl im
      Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG (vgl. BVerfGE 111,
      147 <153>). 


5  


So liegt der Fall hier. Die dem
      Bundesverfassungsgericht im Eilrechtsschutzverfahren allein
      mögliche vorläufige Prüfung lässt eine ausreichende
      Rechtsgrundlage für das ausgesprochene Versammlungsverbot und
      damit für einen Eingriff in das Grundrecht der
      Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG nicht
      erkennen. 


6  


Ist die behördliche Verfügung auf eine
      unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit gestützt
      (§ 15 VersG), erfordert die von der Behörde oder den
      befassten Gerichten anzustellende Gefahrenprognose
      tatsächliche Anhaltspunkte, die bei verständiger Würdigung
      eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts
      ergeben. Bloße Verdachtsmomente und Vermutungen reichen für
      sich allein nicht aus (vgl. BVerfGE 69, 315
      <353 f.>; 87, 399 <409>). Diesen
      Anforderungen werden weder die Verbotsverfügung noch der
      Beschluss des Verwaltungsgerichts gerecht. 


7  


Die Gefahrenprognose der angegriffenen
      Entscheidungen stützt sich im Kern darauf, dass ein kürzlich
      verhafteter Aktivist der „Kameradschaft Aachener Land“ von
      ihm hergestellte Sprengkörper an Autonome Nationalisten in
      Dortmund weitergegeben haben könne und Teilnehmer der hier in
      Frage stehenden Demonstration wegen früherer Blockaden
      rechtsextremistischer Aufzüge in Dresden und Berlin stark
      emotionalisiert und bereit seien, solche möglicherweise an
      sie weitergegebenen Sprengkörper im Falle von Blockaden zur
      Durchsetzung ihres Versammlungsrechts auch einzusetzen.
      Tatsächliche Anhaltspunkte, die diese Prognose mit
      hinreichender Wahrscheinlichkeit stützen würden, sind jedoch
      nicht dargetan. Vielmehr wird es in der Verbotsverfügung
      lediglich nicht ausgeschlossen, dass der betreffende, zur
      Zeit in Berlin inhaftierte Aktivist aus Aachen möglicherweise
      weitere Sprengkörper hergestellt haben und diese auch nach
      Dortmund gebracht habe könnte, damit sie dort während der
      Demonstration des Beschwerdeführers nötigenfalls eingesetzt
      werden könnten. Dass die betreffenden Sprengkörper nach
      Dortmund gebracht worden sind, ist, wie das
      Verwaltungsgericht selbst ausführt, nicht tatsachengestützt
      belegt und beruht lediglich auf allgemeinen Überlegungen.
      Erst recht gilt das für die ohne jede erkennbare Tatsachen-
      oder Erfahrungsgrundlage getroffene Annahme, die Sprengkörper
      könnten entlang der Aufzugstrecke deponiert werden. Insgesamt
      stützt sich die Gefahrenprognose im Wesentlichen allein auf
      die Annahme einer von der konkreten Versammlung unabhängigen
      erhöhten Gewaltbereitschaft der rechten Szene allgemein
      aufgrund einer hier bestehenden emotionalisierten Stimmung.
      Bezogen auf die konkrete Versammlung beschränkt sie sich so
      auf Vermutungen, die für ein Verbot der Versammlung nicht
      ausreichen. 


8  


Auch soweit das Verwaltungsgericht darauf
      hinweist, dass es bei der vorletzten entsprechenden
      Veranstaltung, der Veranstaltung zum „Antikriegstag“ 2008,
      zum Einsatz pyrotechnischer Mittel gekommen sei, ergibt sich
      hieraus keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass eine
      unmittelbare Gefahr für Rechtsverletzungen bestünde, die das
      umfassende Versammlungsverbot auch für das Jahr 2010 trägt.
      Insbesondere lässt sich aus diesen Angaben weder für die
      damalige noch für die in Frage stehende Versammlung erkennen,
      dass durch die Gewalttätigkeiten Einzelner die Versammlung
      selbst die Schwelle zur Gewaltanwendung überschritten hatte
      bzw. sie überschreiten würde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4.
      September 2009 - 1 BvR 2147/09 -, juris, Rn. 13). Denn das
      unfriedliche Verhalten Einzelner kann nicht für die gesamte
      Versammlung zum Verlust des Grundrechtsschutzes führen.
      Andernfalls könnte praktisch jede Großdemonstration verboten
      werden, weil sich nahezu immer Erkenntnisse über unfriedliche
      Absichten eines Teils der Teilnehmer beibringen ließen (vgl.
      BVerfGE 69, 315 <361>). 


9  


Schließlich ist das Versammlungsverbot auch
      nicht unter Notstandgesichtspunkten zu rechtfertigen. Der
      Verweis darauf, dass es bereits bei vorangehenden
      Versammlungen der rechten Szene wiederholt zu Blockaden
      gekommen sei, die die Polizei nicht habe verhindern können,
      kann nicht ausreichen, dies für die Zukunft als
      schicksalhaften Verlauf entsprechender Versammlungen
      hinzunehmen. Vielmehr hat die Polizei in Kooperation mit den
      Veranstaltern im Rahmen der fortbestehenden Möglichkeit,
      Auflagen zu erlassen, etwa durch eine Gestaltung der
      Versammlungsorte und Aufzugstrecken nach Lösungen zu suchen,
      in deren Rahmen sie das Versammlungsrecht effektiv sichern
      kann. Hierbei sind ausreichend Polizeikräfte bereit zu
      stellen. 


10  


Die Auslagenentscheidung beruht auf § 34a
      Abs. 3 BVerfGG. 


11  


Diese Entscheidung ist unanfechtbar. 


   




Kirchhof 
Schluckebier 
Masing