Fall 75
Aktenzeichen: 1 BvR 2794/10
Beck Online: NVwZ 2013 570.0

cid 75 
 BUNDESVERFASSUNGSGERICHT 
- 1 BvR 2794/10 - 

 

 

 

Im Namen des Volkes 

 

In dem Verfahren 
      über 
      die Verfassungsbeschwerde 


   


1. des Herrn S…, 
      2. des Herrn N…, 
      3. des Herrn R…, 
      3. der J., Landesverband S. 


   



        - Bevollmächtigte:
       

        Rechtsanwälte Braeske, Hohnstädter, Thomas, 
        Thomasiusstraße 21, 04109 Leipzig -
       


   





gegen
          a) 

den Beschluss des
          Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2010
          - 3 B 307/10 -, 



b) 

den Beschluss des
          Verwaltungsgerichts Leipzig vom 15. Oktober 2010 - 3 L
          1556/10 - 




   


hat die 1. Kammer des Ersten Senats des
      Bundesverfassungsgerichts durch 
den Vizepräsidenten Kirchhof 
      und die Richter Eichberger, 
      Masing 


   


am 20. Dezember 2012 einstimmig
      beschlossen: 


   



Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts
        Leipzig vom 15. Oktober 2010 – 3 L 1556/10 – und des
        Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2010 –
        3 B 307/10 – verletzen die Beschwerdeführer in ihrem
        Grundrecht aus Artikel 8 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel
        19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes.
                             Die Kostenentscheidungen der Beschlüsse
        werden aufgehoben. Das Verfahren wird insoweit an das
        Sächsische Oberverwaltungsgericht zur erneuten Entscheidung
        über die Kosten des Verfahrens zurückverwiesen.
                             Das Land Sachsen hat den Beschwerdeführern
        die notwendigen Auslagen zu erstatten.
                             Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen
        Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000
        € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
                          


   


Gründe: 


1  


Die Verfassungsbeschwerde betrifft die
      verwaltungsgerichtliche Versagung vorläufigen Rechtsschutzes
      gegen eine versammlungsrechtliche Auflage. 

 

I. 


2  


1. Die Beschwerdeführer meldeten Anfang
      September 2010 bei der Stadt L. ihr Vorhaben an, am 16.
      Oktober 2010 (von 12.00 Uhr bis 20.00 Uhr) in L. eine
      Versammlung unter freiem Himmel durchzuführen. Die geplante
      Versammlung sollte aus drei Aufzügen und einer
      Abschlusskundgebung in der Innenstadt von L. bestehen. Die
      Teilnehmerzahl wurde von den Beschwerdeführern bei der
      Anmeldung auf 600 Personen geschätzt. Das Motto der geplanten
      Versammlung lautete „Recht auf Zukunft“. Es bezog sich auf
      eine am 17. Oktober 2009 in L. von der Beschwerdeführerin zu
      4), einer Unterorganisation der Nationaldemokratischen Partei
      Deutschlands (NPD), veranstaltete Versammlung, bei der es im
      Zusammenhang mit einer Versammlungsblockade durch
      Gegendemonstranten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und
      letztlich zu einer polizeilichen Auflösung der Versammlung
      kam. 


3  


Angesichts dieser Vorgeschichte und der
      Anmeldung von zahlreichen Gegendemonstrationen kam es
      zwischen der Anmeldung und der Durchführung der geplanten
      Versammlung zu umfangreichen Verhandlungen zwischen den
      Beschwerdeführern und der Stadt L., die unter anderem in
      Kooperationsgesprächen am 4., am 6. Und am 13. Oktober 2010
      eingehend die polizeilich sicherbare Anzahl der geplanten
      Aufzüge und die konkrete Streckenführung erörterten. In einer
      Gefährdungsanalyse am 4. Oktober 2010 bekundete die
      Polizeidirektion L. dabei laut den tatsächlichen
      Feststellungen des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, dass
      der Schutz von zwei der angemeldeten Aufzüge mit den zur
      Verfügung stehenden Einsatzkräften gewährleistet werden
      könne. Am 11. Oktober 2010 teilte der Beschwerdeführer zu 1)
      der Stadt schließlich mit, dass am 16. Oktober 2010 nunmehr
      lediglich ein einziger Aufzug stattfinden solle. Am 12.
      Oktober 2010 ergänzte die Polizeidirektion L. ihre
      Gefahrprognose insofern, dass nunmehr nur eine maximal
      vierstündige stationäre Kundgebung durchführbar sei, weil
      nach den Erfahrungen des Versammlungsgeschehens vom 17.
      Oktober 2009 mit einer höheren als der angemeldeten
      Teilnehmerzahl zu rechnen sei und jeweils ca. 10 bis 20 % der
      Teilnehmer der angemeldeten Demonstration und der
      Gegendemonstrationen als gewaltbereit einzustufen seien. 


4  


2. Mit Bescheid vom 13. Oktober 2010
      untersagte die Stadt L. die Durchführung der Versammlung als
      Aufzug, verfügte die Durchführung als stationäre Kundgebung
      in der Zeit von 13.00 Uhr bis 17.00 Uhr in einem Bereich am
      L. Hauptbahnhof und ordnete die sofortige Vollziehung dieser
      Auflage an. Die Polizeidirektion L. habe in ihrer
      Gefahrprognose vom 12. Oktober 2010 dargelegt, dass im
      Zeitraum vom 15. Bis zum 17. Oktober 2010 aufgrund von
      zahlreichen Versammlungsanmeldungen widerstreitender
      politischer Lager eine latente Gefährdungssituation vorhanden
      sei, die einen außerordentlich hohen Kräfteeinsatz der
      Polizei erfordere. Es sei davon auszugehen, dass sich die
      Teilnehmer der Aufzüge bei Angriffen durch Personen der
      linksextremistischen Klientel provozieren ließen und darauf
      entsprechend reagierten. Die Polizei habe glaubhaft
      dargelegt, dass sie kräftetechnisch außerstande sei, einen
      Aufzug zu begleiten, da trotz bundesweiter Anfragen nur 29
      der für erforderlich gehaltenen 44 Polizeihundertschaften,
      also nur 66 % der geplanten Polizeikräfte, zur Verfügung
      stünden. Die Ausübung der Versammlungsfreiheit werde trotz
      der Beschränkungen nicht vereitelt, da der zugewiesene Ort
      eine hinreichende Öffentlichkeitswirksamkeit und eine
      räumliche Trennung der gegensätzlichen politischen Lager
      gewährleiste. 


5  


3. Dagegen erhoben die Beschwerdeführer noch
      am gleichen Tag Widerspruch und stellten beim
      Verwaltungsgericht Leipzig die Anträge, die aufschiebende
      Wirkung ihrer Widersprüche gegen die Auflage, nur eine
      stationäre Kundgebung durchzuführen, wiederherzustellen sowie
      im Wege einer einstweiligen Anordnung ein Verbot sämtlicher
      Versammlungen in einem Umkreis von 300 m um die angemeldeten
      Aufzugstrecken anzuordnen. Das Verwaltungsgericht Leipzig
      lehnte die Eilanträge mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 ab
      und begründete dies im Wesentlichen damit, dass der Bescheid
      vom 13. Oktober 2010 rechtmäßig sei und somit das öffentliche
      Interesse am Sofortvollzug des Bescheids die Interessen der
      Beschwerdeführer überwiege. Die Antragsgegnerin des
      Ausgangsverfahrens, die Stadt L., sei auf der Grundlage der
      Einschätzung der Polizeidirektion L. nachvollziehbar davon
      ausgegangen, dass infolge zahlreicher Gegenaktionen und
      –demonstrationen bei Durchführung des im Zuge der Kooperation
      der Beschwerdeführer zuletzt noch geplanten einzigen Aufzuges
      eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder
      Ordnung bestehe. Bei der Vielzahl der angemeldeten und
      geplanten Veranstaltungen am 16.10.2010, unter anderem ein
      Fußballspiel, und in Anbetracht der beschriebenen begrenzten
      Kräftelage der Polizei sei mit an Sicherheit grenzender
      Wahrscheinlichkeit mit einhergehenden Personen- und
      Sachschäden zu rechnen, denen nur mit der Beschränkung auf
      eine stationäre Kundgebung begegnet werden könne. Dieser
      Gefahr könne in Anbetracht der besonderen
      Veranstaltungssituation am 16. Oktober 2010 auch nicht durch
      Maßnahmen gegen potentielle Störer begegnet werden. 


6  


4. Gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts
      legten die Beschwerdeführer Beschwerde ein. Das Sächsische
      Oberverwaltungsgericht wies die Beschwerde mit Beschluss vom
      15. Oktober 2010 zurück. Ob ein polizeilicher Notstand
      vorliege, sei im Rahmen der summarischen Prüfung nicht
      abschließend zu beurteilen. Der Einschätzung der
      Polizeidirektion lasse sich entnehmen, dass aufgrund des
      Versammlungsgeschehens im Vorjahr mit gewalttätigen
      Auseinandersetzungen einer Anzahl von 10 bis 20 % der
      Teilnehmer sowohl auf Seiten der Beschwerdeführer wie auf
      Seiten linker Demonstranten gerechnet werde. Zwar erschließe
      sich dem Gericht nicht, wodurch sich das Gefährdungspotential
      innerhalb kurzer Zeit so erhöht haben solle, dass statt der
      zwei Aufzüge, die die Polizeidirektion ursprünglich noch mit
      den zur Verfügung stehenden Einsatzkräften für sicherbar
      gehalten habe, nunmehr nur noch eine stationäre Kundgebung
      möglich sein solle. Wegen der fehlenden
      Überprüfungsmöglichkeit sei aufgrund einer Folgenabwägung zu
      entscheiden. Danach sei die Beschwerde zurückzuweisen, weil
      für den Antragsteller die mit der Durchführung einer nur
      stationären Kundgebung verbundenen Beeinträchtigungen
      hinnehmbar seien. 


7  


5. Die Beschwerdeführer beantragten sodann
      beim Bundesverfassungsgericht zunächst den Erlass einer
      einstweiligen Anordnung. Diesen Antrag hat die Kammer
      aufgrund der besonderen Voraussetzungen der Gewährung
      einstweiligen Rechtsschutzes durch das
      Bundesverfassungsgericht abgelehnt, dabei jedoch zugleich auf
      die Möglichkeit der Klärung der aufgeworfenen Fragen in einem
      verfassungsgerichtlichen Hauptsachverfahren hingewiesen
      (BverfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16.
      Oktober 2010 – 1 BvQ 39/10 -, juris). 


8  


6. Hieraufhin erhoben die Beschwerdeführer
      gegen die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Leipzig und des
      Sächsischen Oberverwaltungsgerichts fristgemäß
      Verfassungsbeschwerde mit der Rüge, durch die angegriffenen
      Entscheidungen in ihren Rechten aus Art. 8 Abs. 1 in
      Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG verletzt zu sein. 


9  


7. Das Bundesverfassungsgericht hat der Stadt
      L. als Gegnerin des Ausgangsverfahrens, dem Sächsischen
      Staatsministerium der Justiz und für Europa sowie der
      Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Gelegenheit zur
      Stellungnahme gegeben. 


10  


Nach Auffassung des Rechtsamtes der Stadt L.
      liegen die Voraussetzungen für die Annahme der
      Verfassungsbeschwerde nicht vor. Das Sächsische
      Staatsministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die
      Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts hat eine
      Stellungnahme des unter anderem für das Versammlungsrecht
      zuständigen 6. Revisionssenats übersandt, in der dieser
      Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen
      Entscheidungen äußert. 

 

II. 


11  


Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur
      Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Art. 8
      Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG
      angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die
      Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung
      liegen vor (§ 93c BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht
      hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde
      maßgeblichen Fragen bereits entschieden (vgl. insbesondere
      BVerfGE 69, 315 <340 ff.>; 110, 77
      <83 ff.>). Nach diesen Maßstäben ist die
      Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des
      Verwaltungsgerichts Leipzig und des Sächsischen
      Oberverwaltungsgerichts zulässig und begründet. 


12  


1. Der Zulässigkeit der Rüge der Verletzung
      des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4
      GG steht weder der Grundsatz der Subsidiarität der
      Verfassungsbeschwerde noch das Erfordernis eines
      Rechtsschutzinteresses entgegen. 


13  


a) Der Grundsatz der Subsidiarität der
      Verfassungsbeschwerde verlangt die Erschöpfung des Rechtswegs
      in der Hauptsache nur, soweit die geltend gemachte Verletzung
      von Freiheitsrechten oder von Art. 19 Abs. 4 GG durch
      die Entscheidung der Gerichte in der Hauptsache noch
      ausgeräumt werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer
      des Ersten Senat vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ
      1998, S. 834 <835>). Hier rügen die Beschwerdeführer
      allerdings gerade die Missachtung der Anforderungen des
      Art. 8 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4
      GG bei der Zurückweisung ihres Antrags auf vorläufigen
      Rechtsschutz, die im Hauptsacheverfahren nicht mehr behandelt
      werden würde. 


14  


b) Auch ein Rechtsschutzbedürfnis der
      Beschwerdeführer besteht, obwohl der Demonstrationstermin
      verstrichen und damit der Sofortvollzug der strittigen
      Auflagen gegenstandslos geworden ist. Sind
      verfassungsrechtliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung
      nicht (mehr) zu klären, besteht ein Rechtsschutzbedürfnis
      auch nach Erledigung des ursprünglichen Begehrens im Falle
      einer Wiederholungsgefahr, also wenn ein Gericht die bereits
      herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht
      beachtet hat und bei hinreichend bestimmter Gefahr einer
      gleichartigen Entscheidung bei gleichartiger Sach- und
      Rechtslage zu befürchten ist, dass es diese auch in Zukunft
      verkennt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten
      Senats vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998,
      S. 834 <835>). Hier führten die Beschwerdeführer
      bereits konflikthafte Versammlungen in L. durch und planen
      auch in Zukunft die Durchführung von Versammlungen in L., bei
      denen sie mit ähnlichen Konfliktsituationen rechnen und
      gegebenenfalls gleichartige Entscheidungen des
      Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts
      befürchten müssten. 


15  


2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.
      Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die Beschwerdeführer
      in ihrem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit
      Art. 19 Abs. 4 GG. 


16  


a) Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit,
      mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf
      die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten
      Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen (vgl.
      BVerfGE 104, 92 <104>; 128, 226 <250>). Als
      Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe, die auch und vor
      allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt, ist die
      Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische
      Staatsordnung konstituierend (vgl. BVerfGE 69, 315
      <344 f.>; 128, 226 <250>) und wird im
      Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen
      Auseinandersetzung grundsätzlich auch den Gegnern der
      Freiheit gewährt (vgl. BVerfGE 124, 300 <320>). Damit
      die Bürger selbst entscheiden können, wann, wo und unter
      welchen Modalitäten sie ihr Anliegen am wirksamsten zur
      Geltung bringen können, gewährleistet Art. 8 Abs. 1 GG
      nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung
      teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben, sondern umfasst
      zugleich ein Selbstbestimmungsrecht über die Durchführung der
      Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die
      Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung (vgl.
      BVerfGE 69, 315 <343> oder <355 ff.>; 128,
      226 <250 f.>). 


17  


Beschränkungen der Versammlungsfreiheit
      bedürfen gemäß Art. 8 Abs. 2 GG zu ihrer Rechtfertigung
      einer gesetzlichen Grundlage (vgl. BVerfGE 69, 315
      <350 f.>; BVerfGK 17, 303 <307>). Nach
      § 15 des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge
      (Versammlungsgesetz) vom 24. Juli 1953 in der Fassung vom 8.
      Dezember 2008 (BGBl I S. 2366; im Folgenden: VersG) kann die
      zuständige Behörde die Versammlung von bestimmten Auflagen
      abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der
      Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit
      oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar
      gefährdet ist. Danach kann im Einzelfall auch die Festlegung
      geboten sein, dass eine ursprünglich als Aufzug angemeldete
      Versammlung nur als ortsfeste Versammlung durchgeführt werden
      darf (vgl. BVerfGK 2, 1 <8>). Unter Berücksichtigung
      der Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde
      allerdings auch bei dem Erlass von Auflagen keine zu geringen
      Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen. Als Grundlage
      der Gefahrenprognose sind konkrete und nachvollziehbare
      tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße
      Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen hierzu nicht aus
      (BVerfGE 69, 315 <353 f.>; BVerfGK 17, 303
      <307>). Ferner gilt, dass, soweit sich der Veranstalter
      und die Versammlungsteilnehmer grundsätzlich friedlich
      verhalten und Störungen der öffentlichen Sicherheit
      vorwiegend aufgrund des Verhaltens Dritter - insbesondere von
      Gegendemonstrationen - zu befürchten sind, die Durchführung
      der Versammlung zu schützen ist und behördliche Maßnahmen
      primär gegen die Störer zu richten sind (vgl. BVerf-GE 69,
      315 <360 f.>; BVerfGK 8, 79 <81>; BVerfG ,
      Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. September
      2000 - 1 BvQ 24/00, NVwZ 2000, S. 1406 <1407>). Gegen
      die friedliche Versammlung selbst kann dann nur unter den
      besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes
      eingeschritten werden (vgl. BVerfGE 69, 315
      <360 f.>; BVerfGK 17, 303 <308>). Dies setzt
      voraus, dass die Versammlungsbehörde mit hinreichender
      Wahrscheinlichkeit anderenfalls wegen der Erfüllung
      vorrangiger staatlicher Aufgaben und trotz des Bemühens,
      gegebenenfalls externe Polizeikräfte hinzuzuziehen, zum
      Schutz der von dem Antragsteller angemeldeten Versammlung
      nicht in der Lage wäre; eine pauschale Behauptung dieses
      Inhalts reicht allerdings nicht (vgl. BVerfGK 8, 79
      <82>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats
      vom 24. März 2001 - 1 BvQ 13/01 -, NJW 2001, S. 2069
      <2072>). Die Darlegungs- und Beweislast für das
      Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage liegt
      grundsätzlich bei der Behörde (vgl. BVerfGK 17, 303
      <308>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten
      Senats vom 4. September 2009 - 1 BvR 2147/09 -, NJW 2010, S.
      141 <142>). 


18  


b) Art. 19 Abs. 4 GG garantiert einen
      effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen
      Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE
      67, 43 <58>; 96, 27 <39>). Im Verfahren auf
      Wiederherstellung oder Anordnung der aufschiebenden Wirkung
      eines Widerspruchs, das für den Regelfall sicherstellt, dass
      die Verwaltungsbehörden keine irreparablen Maßnahmen
      durchführen, bevor die Gerichte deren Rechtmäßigkeit geprüft
      haben, ist der Rechtsschutzanspruch des Bürgers umso stärker,
      je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung wiegt und je
      mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken
      (vgl. BVerfGE 35, 382 <401 f.>; 69, 315
      <363>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat
      vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834
      <835>). Insbesondere im Bereich des Versammlungsrechts
      muss das verwaltungsgerichtliche Eilverfahren angesichts der
      Zeitgebundenheit von Versammlungen zum Teil Schutzfunktionen
      übernehmen, die sonst das Hauptsacheverfahren erfüllt (vgl.
      BVerfGE 69, 315 <363 f.>; 110, 77 <87>;
      BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat vom 23. März
      2004 - 1 BvR 745/01 -, juris, Rn. 13). Die einstweilige
      Anordnung im verfassungsgerichtlichen Verfahren als außerhalb
      der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG liegender
      Rechtsbehelf kann die primäre Rechtsschutzfunktion der
      Fachgerichte ebenfalls nicht übernehmen. Angesichts der
      Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts und im Hinblick auf
      die weitreichenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung
      auslösen kann, ist hierbei zudem ein strenger, von den
      verwaltungsgerichtlichen Kriterien grundsätzlich
      unterschiedener Maßstab anzulegen (vgl. BVerfG, Beschluss der
      1. Kammer des Ersten Senat vom 16. Oktober 2010 - 1 BvQ 39/10
      -, juris, Rn. 4). Daher müssen die Verwaltungsgerichte zum
      Schutz von Versammlungen, die auf einen einmaligen Anlass
      bezogen sind, schon im Eilverfahren durch eine intensivere
      Prüfung dem Umstand Rechnung tragen, dass der Sofortvollzug
      der umstrittenen Maßnahme in der Regel zur endgültigen
      Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Form
      führt. Soweit möglich, ist als Grundlage der gebotenen
      Interessenabwägung die Rechtmäßigkeit der Maßnahme in
      rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nicht nur summarisch
      zu prüfen (vgl. BVerfGE 69, 315 <363 f.>; 110, 77
      <87>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senat
      vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, S. 834
      <835>). Sofern dies nicht möglich ist, haben die
      Fachgerichte jedenfalls eine sorgfältige Folgenabwägung
      vorzunehmen und diese hinreichend substantiiert zu begründen,
      da ansonsten eine Umgehung der beschriebenen strengen
      Voraussetzungen für Beschränkungen der Versammlungsfreiheit
      möglich erschiene. 


19  


3. Diese Maßstäbe haben das Verwaltungsgericht
      Leipzig und das Sächsische Oberverwaltungsgericht bei den
      ihnen obliegenden Entscheidungen über die Gewährung
      vorläufigen Rechtsschutzes nicht hinreichend berücksichtigt.
      Beide Entscheidungen werden den verfassungsrechtlichen
      Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit
      Art. 19 Abs. 4 GG im Hinblick auf die Gewährung
      vorläufigen Rechtsschutzes gegen versammlungsbeschränkende
      behördliche Maßnahmen nicht gerecht. 


20  


a) Die vom Verwaltungsgericht Leipzig
      herangezogenen Umstände sind nicht geeignet, die Annahme
      einer von der Versammlung selbst ausgehenden unmittelbaren
      Gefährdung für die öffentliche Sicherheit zu tragen, die die
      Verhinderung der Versammlung in Form eines Aufzugs hätte
      rechtfertigen können. Das Verwaltungsgericht legt insofern
      bereits nicht hinreichend deutlich dar, ob seiner Auffassung
      nach auch von der Versammlung selbst eine Gefahr für die
      öffentliche Sicherheit ausgeht oder diese Gefahr
      ausschließlich aufgrund der zahlreichen Gegendemonstrationen
      und den hieraus zu erwartenden Störungen der Versammlung
      besteht. Dass das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung
      zur Begründung seines Standpunktes im Wesentlichen lediglich
      auf die Einschätzung der Polizeidirektion L., die ohne nähere
      Erläuterung 10 bis 20 % der Teilnehmer der angemeldeten
      Demonstration dem gewaltbereiten Klientel zurechnete,
      verweist, genügt den Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 in
      Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG insofern jedenfalls
      nicht. 


21  


Auch im Hinblick auf eine Inanspruchnahme der
      Veranstalter als Nichtstörer im Wege des polizeilichen
      Notstandes genügen die tatsächlichen Feststellungen des
      Verwaltungsgerichts den Anforderungen des Art. 8 Abs. 1
      in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Das
      Verwaltungsgericht weist insofern zur Begründung des
      Vorliegens einer nicht durch Maßnahmen gegen potentielle
      Störer abwendbaren Gefahr, insbesondere auf die besondere
      Veranstaltungssituation am 16. Oktober 2010 und die deswegen
      nur begrenzt zur Verfügung stehenden Polizeikräfte, hin und
      beruft sich dabei pauschal auf die Einschätzung der
      Polizeidirektion L. vom 13. Oktober 2010. Berücksichtigt man
      aber den Umstand, dass die Polizeidirektion in ihrer
      Gefährdungsanalyse vom 4. Oktober 2010 offenbar noch zwei der
      angemeldeten Aufzüge mit den ihr voraussichtlich zur
      Verfügung stehenden Kräften für sicherbar hielt, erfüllt
      diese pauschale Bezugnahme auf die Einschätzung der
      Polizeidirektion vom 13. Oktober 2010 nicht die den
      Anforderungen an die entsprechend obigen Maßstäben bereits im
      Eilverfahren gebotene intensivere Rechtmäßigkeitsprüfung.
      Vielmehr hätte die kurzfristige Änderung der polizeilichen
      Einschätzung, die sich nicht ohne weiteres erschließt, das
      Verwaltungsgericht zu einer substantiierteren Prüfung der
      veränderten polizeilichen Einschätzung und zur Nachfrage
      einer genaueren Begründung ihrer Entscheidung veranlassen
      müssen. Dass dies vorliegend aus zeitlichen Gründen nicht
      möglich gewesen wäre, ist nicht erkennbar. Auch im Übrigen
      hätte es dezidierterer Feststellungen bedurft, aufgrund
      welcher konkreter Gefahren für die öffentliche Sicherheit und
      aufgrund welcher konkreter, vorrangig zu schützender
      sonstiger Veranstaltungen keine ausreichenden Polizeikräfte
      mehr zum Schutz der angemeldeten Versammlung und der
      Rechtsgüter Dritter zur Verfügung gestanden hätten. Die
      behauptete Bindung von Polizeikräften durch die zeitgleich
      stattfindenden Gegendemonstrationen kann nach obigen
      Maßstäben jedenfalls nicht ohne weiteres als hinreichendes
      Argument dafür herangezogen werden. Auch die Bindung von
      Polizeikräften aufgrund eines parallel stattfindenden
      Fußballspiels und sonstiger Veranstaltungen, deren vorrangige
      Schutzwürdigkeit sich nicht ohne weiteres erschließt, reicht
      hierfür nicht aus. 


22  


b) Die angegriffene Entscheidung des
      Sächsischen Oberverwaltungsgerichts hält den
      verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 8 Abs. 1
      in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG ebenfalls nicht
      stand. Zwar hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht
      deutliche Bedenken am Vorliegen der Voraussetzungen eines für
      die Rechtfertigung der versammlungsrechtlichen Auflage
      erforderlichen polizeilichen Notstandes geäußert und
      nachvollziehbar dargelegt, dass sich ihm nicht erschließe,
      wodurch sich das Gefährdungspotential innerhalb des kurzen
      Zeitraumes zwischen der Gefährdungsanalyse der
      Polizeidirektion L. vom 4. Oktober 2010 und dem Erlass der
      Auflage am 13. Oktober 2010 so erhöht haben soll, dass statt
      der zwei Aufzüge, die ursprünglich noch mit den zur Verfügung
      stehenden Einsatzkräften für sicherbar gehalten wurden,
      nunmehr nur noch eine stationäre Kundgebung möglich sein
      solle. Auch erscheint es nachvollziehbar, dass dem
      Sächsischen Oberverwaltungsgericht in der Kürze der ihm zur
      Verfügung stehenden Zeit die Vornahme der hier grundsätzlich
      gebotenen und soweit als möglich nicht lediglich summarischen
      Rechtmäßigkeitskontrolle der behördlichen Auflage nicht mehr
      möglich war. Allerdings hätte es dem Sächsischen
      Oberverwaltungsgericht in dieser Konstellation, um der
      Freiheitsvermutung zugunsten der Versammlungsfreiheit
      zumindest in der Sache Rechnung zu tragen, oblegen, eine
      besonders sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und diese in
      der Begründung seiner Entscheidung hinreichend offenzulegen.
      Vorliegend hat sich das Sächsische Oberverwaltungsgericht in
      der Begründung seiner Entscheidung jedoch im Wesentlichen
      darauf beschränkt, auf die vermeintlich geringe
      Beeinträchtigung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit
      hinzuweisen, ohne auch nur ansatzweise ausreichend auf das
      Bestehen einer die Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit
      überwiegenden potentiellen Beeinträchtigung anderer
      Rechtsgüter einzugehen. 


23  


4. Demgemäß ist festzustellen, dass sowohl der
      angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts Leipzig als
      auch der angegriffene Beschluss des Sächsischen
      Oberverwaltungsgerichts die Beschwerdeführer in ihrem
      Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit
      Art. 19 Abs. 4 GG verletzen. Einer Aufhebung der
      Entscheidungen und Zurückverweisung zur erneuten Entscheidung
      bedarf es darüberhinausgehend nur bezüglich der
      Kostenentscheidungen, da in der Sache selbst Erledigung
      eingetreten ist (vgl. Schemmer, in: Umbach/Clemens/Dollinger,
      2. Aufl. 2005, BVerfGG, § 93c Rn. 33). 


24  


5. Die Entscheidung über die
      Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerf-GG. Die
      Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2
      Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE
      79, 365 <366 ff.>). 


   




Kirchhof 
Eichberger 
Masing