Fall 78
Aktenzeichen: 1 BvR 2135/09
Beck Online: NVwZ 2014 1453.0

cid 78 
 BUNDESVERFASSUNGSGERICHT 
- 1 BvR 2135/09 - 

 

 

 

Im Namen des Volkes 

 

In dem Verfahren 
      über 
      die Verfassungsbeschwerde 


   


der Frau S… 


   



        - Bevollmächtigte:
       

        Rechtsanwälte Wächtler und Kollegen, 
        Rottmannstraße 11 a, 80333 München -
       


   





gegen
          a) 

den Beschluss des
          Oberlandesgerichts Bamberg vom 5. August 2009 - 2 Ss OWi
          811/2009 -, 



b) 

das Urteil des Amtsgerichts
          München vom 9. April 2009 - 1125 OWi 111 Js 10211/09
          - 




   


hat die 3. Kammer des Ersten Senats des
      Bundesverfassungsgerichts durch 
den Vizepräsidenten Kirchhof, 
      den Richter Masing 
      und die Richterin Baer 


   


am 26. Juni 2014 einstimmig beschlossen: 


   


Das Urteil des Amtsgerichts München vom
      9. April 2009 - 1125 OWi 111 Js 10211/09 - verletzt die
      Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 8
      Absatz 1 des Grundgesetzes. 
Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache
      wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das
      Amtsgericht München zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss
      des Oberlandesgerichts Bamberg vom 5. August 2009 - 2 Ss
      OWi 811/2009 - gegenstandslos. 
Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin
      ihre notwendigen Auslagen zu erstatten. 
      Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im
      Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten:
      fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt. 


   


Gründe: 

 

I. 


1  


Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich
      die Beschwerdeführerin gegen die Verurteilung zu einer
      Geldbuße wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz. 


2  


1. Die Beschwerdeführerin nahm am 1. Mai
      2008 an einer Versammlung des Deutschen Gewerkschaftsbundes
      in München mit dem Thema „01. Mai. Tag der Arbeit“ teil.
      Angemeldet waren eine stationäre Auftaktkundgebung, ein
      Versammlungszug und eine stationäre Abschlusskundgebung. Für
      die Versammlung hatte das Kreisverwaltungsreferat München als
      zuständige Versammlungsbehörde mit Bescheid vom
      28. April 2008 unter dem Unterpunkt „Kundgebungsmittel /
      Versammlungshilfsmittel“ unter anderem die Auflage erlassen,
      dass Lautsprecher und Megaphone nur für Ansprachen und
      Darbietungen, die im Zusammenhang mit dem Versammlungsthema
      stehen, sowie für Ordnungsdurchsagen verwendet werden dürfen.
      Während des Versammlungszuges benutzte die Beschwerdeführerin
      an zwei Orten einen Lautsprecher, welcher auf einem Handwagen
      mitgeführt wurde, für folgende Durchsagen: „Bullen raus aus
      der Versammlung!“ und „Zivile Bullen raus aus der Versammlung
      - und zwar sofort!“. 


3  


2. Gegen die Beschwerdeführerin wurde ein
      Bußgeldverfahren eingeleitet. Das Amtsgericht verurteilte die
      Beschwerdeführerin mit angegriffenem Urteil wegen Verstoßes
      gegen das Versammlungsgesetz (Nichtbeachtung beschränkender
      Auflagen) gemäß § 29 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 3 i.V.m.
      § 15 Abs. 1 VersG zu einer Geldbuße von 250 Euro. 


4  


Hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Auflage
      bestünden keine Bedenken. Zwar sei ein gänzliches Verbot des
      Einsatzes von Lautsprecheranlagen bei einer Versammlung nicht
      zulässig, die Versammlungsbehörde könne jedoch insoweit
      Beschränkungen anordnen, als beispielsweise die Sicherheit
      des Straßenverkehrs oder der Schutz unbeteiligter Dritter vor
      schädlichen Umwelteinwirkungen dies erforderten und die
      Verwendung von Lautsprechern nicht funktional zur
      Verwirklichung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit
      notwendig seien. Der Zweck einer kollektiven Meinungsbildung
      und -kundgabe entfalle, wenn der Einsatz elektronischer
      Verstärker allein oder hauptsächlich anderen Zwecken als der
      Meinungskundgabe zu versammlungsbezogenen Themen diene. In
      diesem Falle sei der Einsatz des Verstärkers nicht anders zu
      bewerten, als wenn eine Einzelperson oder die Veranstalter
      eines Informationsstandes sich eines Verstärkers bedienten,
      um ihr Anliegen zu verbreiten. Die Beschränkung von
      Lautsprecherdurchsagen auf versammlungsthemenbezogene
      Meinungsäußerungen und auf Ordnungsdurchsagen sei vor diesem
      Hintergrund im Lichte der Versammlungsfreiheit nicht zu
      beanstanden. Die Beschränkung auf Ordnungsdurchsagen sei auch
      nicht wegen mangelnder Bestimmtheit unzulässig. Es handele
      sich dabei zwar um einen unbestimmten Rechtsbegriff, bei
      vernünftiger Betrachtung sei jedoch offensichtlich, was damit
      gemeint sei: Durchsagen, welche Störungen des
      Versammlungszuges von außen oder innen vermeiden sollen. 


5  


Vorliegend habe die Beschwerdeführerin mit
      ihrer Aussage aber weder eine eventuelle Störung der
      Versammlung beseitigen wollen noch habe sie eine
      versammlungsthemenbezogene Aussage getätigt. Sie habe
      vielmehr allein ihre Meinung und ihr Missfallen zur
      beziehungsweise über die Teilnahme von Zivilpolizisten an dem
      Zug Ausdruck verleihen wollen und insoweit eher zur
      Hervorrufung von Störungen beigetragen als solche verhindern
      wollen. Auch eine weitergehende Verknüpfung mit einem
      besonderen Thema oder mit dem spezifischen Versammlungsthema
      sei bei der getätigten Aussage nicht erkennbar. Insbesondere
      werde aus der Art der getätigten Äußerung deutlich, dass die
      Beschwerdeführerin durch ihre Äußerung auch keinen
      politischen Diskurs und Meinungsaustausch über ein zu viel an
      Polizeipräsenz bei bayerischen Versammlungen beabsichtigt
      habe. Der Beschwerdeführerin sei die gegenständliche Auflage
      auch bekannt gewesen und bewusst gewesen, dass die beiden von
      ihr getroffenen Aussagen weder in direktem Zusammenhang mit
      dem Versammlungsthema standen noch einen geordneten
      Versammlungsablauf bezweckten. 


6  


3. Das Oberlandesgericht verwarf den Antrag
      der Beschwerdeführerin, gemäß § 80 Abs. 1 OWiG die
      Rechtsbeschwerde zuzulassen, als unbegründet. 


7  


4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die
      Beschwerdeführerin insbesondere eine Verletzung in ihrem
      Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8
      Abs. 1 GG. 


8  


5. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz
      und für Verbraucherschutz, sowie das Bayerische
      Staatsministerium des Innern hatten Gelegenheit zur
      Stellungnahme. In einer dem Bundesverfassungsgericht zur
      Kenntnis gegebenen Stellungnahme der Landeshauptstadt München
      gegenüber dem Bayerischen Staatsministerium des Innern hat
      die Landeshauptstadt München die Auffassung vertreten, dass
      die angegriffenen Entscheidungen den verfassungsrechtlichen
      Anforderungen entsprechen. Insbesondere fielen die fraglichen
      Äußerungen bereits nicht in den Schutzbereich des Art. 8
      Abs. 1 GG, jedenfalls wäre der Eingriff aber gerechtfertigt.
      Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für
      Verbraucherschutz sowie das Bayerische Staatsministerium des
      Innern haben von einer weiteren Stellungnahme abgesehen. Die
      Akten des Ausgangsverfahrens haben dem
      Bundesverfassungsgericht vorgelegen. 

 

II. 


9  


Die Verfassungsbeschwerde wird zur
      Entscheidung angenommen (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b
      BVerfGG). Soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer
      Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG rügt, liegen
      die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung
      vor (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die maßgebenden
      verfassungsrechtlichen Fragen zum Schutz der
      Versammlungsfreiheit sind geklärt (vgl. BVerfGE 69, 315
      <342 ff.>; 84, 203 <209 ff.>; 87, 399
      <406 ff.>; 104, 92 <103 f.>). Danach
      ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet. 


10  


1. Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts
      verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht der
      Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG. 


11  


a) Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit
      ist eröffnet. Die Beschwerdeführerin war unstreitig
      Teilnehmerin einer auf die Teilhabe an der öffentlichen
      Meinungsbildung gerichteten Kundgebung und damit einer
      Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE
      104, 92 <104>). Vom Schutzbereich der
      Versammlungsfreiheit grundsätzlich umfasst war damit auch die
      Verwendung von Lautsprechern oder Megaphonen als Hilfsmittel
      (vgl. BVerfGK 11, 102 <108>). Die als bußgeldbewehrt
      erachteten Lautsprecherdurchsagen standen auch inhaltlich in
      hinreichendem Zusammenhang mit der durch Art. 8 Abs. 1
      GG geschützten Durchführung der Versammlung. Mögen sie auch
      keinen spezifischen Bezug zum Versammlungsthema aufgewiesen
      haben und nicht auf die Einhaltung der Ordnung gerichtet
      gewesen sein, so gaben sie jedenfalls das
      versammlungsbezogene Anliegen kund, dass sich in dem auf den
      Willensbildungsprozess gerichteten Aufzug selbst nur solche
      Personen befinden sollen, die am Willensbildungsprozess auch
      teilnehmen, nicht aber auch am Meinungsbildungsprozess
      unbeteiligte Polizisten, die als solche nicht erkennbar sind.
      In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die
      körperliche Sichtbarmachung von gemeinsamen Überzeugungen
      (vgl. BVerfGE 69, 315 <345>). Wer an einer solchen
      Versammlung teilnimmt, ist grundsätzlich auch dazu
      berechtigt, während der Versammlung dafür einzutreten, dass
      nur die das Anliegen der Versammlung unterstützenden Personen
      an ihr teilnehmen und Polizisten sich außerhalb des Aufzugs
      bewegen. Insoweit ist die entsprechende Lautsprecheraussage
      nicht - wie das Amtsgericht annimmt - dem
      Schutzbereich der Versammlungsfreiheit entzogen. 


12  


b) Durch die Sanktionierung der
      Lautsprecherdurchsagen mit einem Bußgeld greift die
      amtsgerichtliche Entscheidung in diesen Schutzbereich ein.
      Dieser Eingriff ist auf der Grundlage der gerichtlichen
      Feststellungen nicht gerechtfertigt. 


13  


(1) Zwar ist die Versammlungsfreiheit nicht
      unbeschränkt gewährleistet. Bei Versammlungen unter freiem
      Himmel sind zur Wahrung kollidierender Interessen Dritter
      Eingriffe in das Grundrecht gemäß Art. 8 Abs. 2 GG durch
      Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes zulässig (vgl. BVerfGE
      87, 399 <406>). Es handelt sich bei der zur Anwendung
      gelangten Bußgeldvorschrift des § 29 Abs. 2, Abs. 1 Nr.
      3 VersG um ein solches Gesetz, dessen Auslegung und Anwendung
      grundsätzlich Sache der Strafgerichte ist (vgl. BVerfGK 10,
      493 <495>). Allerdings haben die staatlichen Organe und
      damit auch die Strafgerichte die grundrechtsbeschränkenden
      Gesetze stets im Lichte der grundlegenden Bedeutung von
      Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen und sich bei Maßnahmen
      auf das zu beschränken, was zum Schutze gleichwertiger
      anderer Rechtsgüter notwendig ist (vgl. BVerfGE 69, 315
      <349>; 87, 399 <407>). 


14  


(2) Diesem Maßstab wird die amtsgerichtliche
      Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einem Bußgeld nicht
      gerecht. 


15  


Indem die amtsgerichtliche Entscheidung die
      Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einer Geldbuße in der
      Sache allein darauf stützte, dass sie die Lautsprecheranlage
      zu einem anderen Zweck als zu einer im engen Sinne
      themenbezogenen Durchsage oder Ordnungsmaßnahme nutzte,
      verkennt sie den Schutzgehalt des Art. 8 Abs. 1 GG, der
      - wie dargelegt - jedenfalls grundsätzlich auch
      Äußerungen zu anderen versammlungsbezogenen Fragen erlaubt.
      Insoweit konnte sich das Gericht auch nicht uneingeschränkt
      auf die entsprechende Auflage berufen. Vielmehr durfte es die
      Auflage nur dann als verfassungsgemäß ansehen, wenn es sie
      einer Auslegung für zugänglich hielt, nach der andere als
      strikt themenbezogene Äußerungen mit Versammlungsbezug von
      ihr nicht ausgeschlossen sind. An einer solchen
      Berücksichtigung des Schutzgehaltes der Versammlungsfreiheit
      fehlt es indes. Vielmehr belegt die angegriffene Entscheidung
      die in Frage stehenden versammlungsbezogenen Äußerungen
      unabhängig von jeder Störung mit einer Geldbuße. Für eine
      Störung durch den Gebrauch der Lautsprecheranlage im
      konkreten Fall ist weder etwas dargetan noch ist sie sonst
      ersichtlich. Die Lautsprecherdurchsagen der
      Beschwerdeführerin waren erkennbar nicht geeignet, mehr als
      allenfalls unerhebliche Unruhe innerhalb der Versammlung zu
      stiften. Der bloße Aufruf „Zivile Bullen raus aus der
      Versammlung - und zwar sofort!“ mag bei lebensnaher
      Betrachtung kurzfristige Irritationen von
      Versammlungsteilnehmern hervorrufen, war aber ersichtlich
      nicht zur Störung des ordnungsgemäßen Verlaufs der
      Versammlung geeignet. Insbesondere wurden Zivilpolizisten
      nicht kon-kret und in denunzierender Weise benannt und so
      etwa in die Gefahr gewalttätiger Übergriffe aus der
      Versammlung gebracht. Auch eine mögliche Beeinträchtigung der
      Gesundheit von Dritten durch übermäßigen Lärm erscheint durch
      die bloß kurzzeitige zweimalige Benutzung des Lautsprechers
      ausgeschlossen. Insgesamt ist damit nicht erkennbar, dass
      Gefährdungen vorlagen, die die Verurteilung der
      Beschwerdeführerin zu einem Bußgeld rechtfertigten. 


16  


2. Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts
      beruht auch auf dem aufgezeigten Grundrechtsverstoß. Es ist
      nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht bei einer erneuten
      Befassung unter Beachtung der grundrechtlichen Anforderungen
      des Art. 8 Abs. 1 GG zu einem anderen Ergebnis
      kommen wird. Das angegriffene Urteil ist daher aufzuheben,
      die Sache ist an das Amtsgericht zur erneuten Entscheidung
      zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2
      BVerfGG). Der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg über
      die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde vom 5. August
      2009 ist damit gegenstandslos. 


17  


3. Die Entscheidung über die
      Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die
      Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2
      Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE
      79, 365 <366 ff.>). 


   




Kirchhof 
Masing 
Baer